Csáky, Moritz / Sommer, Monika (Hrsg.): Kulturerbe als soziokulturelle Praxis. Innsbruck, Wien, Bozen, Studienverlag 2005. ISBN 3 7065 4125 4
Der knapp zweihundert Seiten starke Band Kulturerbe als soziokulturelle Praxis ist eine gute Quelle verschiedener Beobachtungen und Überlegungen zu einem Komplex verschiedener aktueller Fragen: Welche Gegenstände umfasst der Begriff des kulturellen Erbes historisch und gegenwärtig? Wie und unter welchen sozialen Bedingungen konstituiert sich ein Kulturerbe? Was sind die Voraussetzungen seiner intergenerationalen Weitergabe? In welchem Verhältnis stehen globale, nationale und regionale kulturelle Erbschaften? Wer bürgt wie für die Kontinuität von Begriff und Gegenstand in unterschiedlichen geografischen, politischen und sozialen Kontexten? Widerstrebt die Vielzahl disparater Phänomene einer verbindlichen Definition des kulturellen Erbes und muss nicht jeder Versuch eine solche zu treffen zwangsläufig als kolonisatorisches Instrument im Mantel eines normativen Kulturverständnisses angesehen werden?
Zu diesen und anderen Fragen versammelt der Band zwölf Autor_Innen aus Österreich, Deutschland, Polen, Ungarn und Indien, die sich mit unterschiedlichen Gegenständen aus dem nur noch schwer einzugrenzenden Forschungsbereich Kulturerbe beschäftigen. In drei größere Abschnitte (Positionen, Medien, Schauplätze) unterteilt, geht es in deren Texten um Herkunft, Berechtigung und Problematik des Begriffs des Weltkulturerbes (Positionen), die Konstruktion und Transformation von Kulturerbe im Medium der Ansichtskarte, die Vermittelbarkeit von immateriellem Kulturerbe in Museum und Ausstellung, um Musik und Theater sowie Privatsammlungen in Ungarn (Medien). Der dritte und letzte Themenkomplex Schauplätze vereint Texte zur kolonialen Prägung der Wahrnehmung des kulturellen Erbes im zeitgenössischen Indien, zum offiziellen, von gravierenden Widersprüchen gekennzeichneten Verständnis von Kulturerbe der europäischen Union als politische Entität sowie schließlich zur besonderen Schwierigkeit, tragfähige Strategien für den Umgang mit Kulturerbe in den ehemals sozialistischen Staaten Polen und Ungarn zu entwickeln. Den Band beschließt ein kritischer Beitrag zur Definition, Erfassung und Erhaltung von Kulturerbe in Österreich.
Bereits die Wahl des Titels des Bandes macht deutlich, dass die beteiligten Autor_Innen ein statisches Verständnis von Kulturerbe ausnahmslos als anachronistisch zurückweisen; vielmehr gelingt es ihnen in ihren Beiträgen gut, den Prozesscharakter von Kultur- und Kulturerbebegriff herauszuarbeiten. Sie vertreten damit einen strukturalistischen Kulturbegriff auf der Höhe zeitgenössischer Kulturtheorien. Einige Positionen und Erkenntnisse der 2005 im Innsbrucker Studienverlag erschienen Textsammlung sind angesichts der Entwicklung seither fraglos nicht mehr gänzlich neu; nichtsdestoweniger wird es mit dem Thema vertraute Leser_Innen kaum überraschen, dass Schauplätze, Gegenstände und Positionen nichts an Brisanz und Aktualität eingebüßt haben.
Positionen
Friedrich Achleitner (13-17) geht in seinem Text einleitend der Herkunft des Begriffs Weltkulturerbe nach. Ihm erscheint das Kompositum anmaßend und eurozentristisch: „Welt ist ein enzyklopädischer Begriff, der in jeder Hinsicht Totalität anstrebt, mit eingeschlossenen Hierarchien, Ordnungen, Wertungen, von Anfang an eurozentriert, was sonst. In einem kulturellen Kontext also Welt in den Mund zu nehmen ist nicht nur eine Anmaßung, sondern setzt sich dem Verdacht auf Blindheit oder Naivität aus“ (13). Zudem befriedigten Objekte, die mit dem Prädikat Weltkulturerbe versehen seien, zunehmend ökonomische Interessen. Achleitner hat reichlich Kritik für Gremien und Verfahren der UNESCO übrig; diese betrifft etwa die Weltkulturerbe-Kommission, die darüber befindet, welches Objekt in die Liste des Welterbes aufgenommen wird: „Während die auf wackeligen Beinen stehende, kritisch zu hinterfragende und nur durch Schein legitimierte Definitionskompetenz sich langsam in eine Definitionsmacht verwandelt und zu einer Art ‚ästhetischer Weltregierung‘ mutiert, führen die daraus resultierenden Maßnahmen in ein unüberschaubares Desaster. Die neoliberalen Strategien der ‚Verwertung‘ sind in Wirklichkeit auf Jahrzehnte angelegte Zerstörungsstrategien“ (16).
Wenn Friedrich Achleitner über die Herkunft des Begriffs des Weltkulturerbes philosophiert, dann nimmt Wilfried Lipp (19-30) die Genese der Idee in den Fokus. Er verortet diese ursprünglich in den sieben Weltwundern der Antike und verlängert sie in die Gründung der UNESCO, des Internationalen Rats für Denkmalpflege (ICOMOS) sowie die einschlägigen Dokumente, die unter der Ägide dieser Institutionen verabschiedet wurden. Den gegenwärtigen Kulturerbeschutz verortet Lipp in einem Spannungsfeld aus Konflikten, Globalisierung, Ökonomie sowie den Identitätskrisen der Moderne, die vom „Politischen“ überfangen werden.
Medien
Empirisch und theoretisch stark argumentiert Eva Tropper (33-56), dass Ansichtskarten (nicht nur) die Wahrnehmung der Stadt Graz als Kulturerbe geprägt haben: „Als frühe kulturindustrielle Massenware sind Ansichtskarten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur Begleiterscheinung, sondern auch Definitionsmacht des ‚Sehenswerten‘ […].“ Tropper gelingt es, hauptsächlich in Anlehnung an die Kulturerbetheorie David Lowenthals, zu zeigen, dass Ansichtskarten par excellence das der Kulturerbepraxis an sich zugeschriebene Prinzip von Selektion und Exklusion inkorporieren. So schließlich prägen sie die Wahrnehmung nicht nur ihres Gegenstandes, vielmehr exkludieren sie auch dessen Kontext. Die Stadt – hier Graz, jedoch zeigt Tropper ebenfalls, dass sich ihre Schlüsse bedingt generalisieren lassen – wird so auf einige wenige ihrer Merkmale reduziert, die zudem kanonisch reproduziert werden. Dabei jedoch, argumentiert Tropper, ist dieser Kanon Änderungen unterworfen, die, so ihre These, gegenwärtig hauptsächlich die Tourismusindustrie diktiert: „Heute sind Ansichtskarten längst zum ausschließlichen Accessoire eines Stadt-Tourismus geworden, der nur den Kern als bildwürdig gelten lässt. Damit geht eine rigorose Hierarchisierung des Stadtraums einher; ein Ausblenden nicht nur der Peripherie, sondern aller Bereiche, die nicht unmittelbar auf Graz schließen lassen. Es geht offenbar immer mehr darum, die Stadt auf signifikante icons festzulegen, also auf verdichtete, statische Zeichen, die sofortige Wiedererkennung gewährleisten, während das Nicht-Signifikante ausgeschlossen wird“ (41). Die Folge ist eine fortschreitende Dekontextualisierung der Objekte im Stadtgefüge einerseits sowie die Dekontextualisierung der Städte selbst aus nationalen und globalen Bezügen andererseits. Städte werden zu vermeintlich individuellen, tatsächlich jedoch austauschbaren Kulissen, in deren Kern nur mehr ökonomische Bedürfnisse befriedigt werden: „Städte scheinen im Zeitalter der Globalisierung zugleich einer Homogenisierung und einer Differenzierung zu unterliegen: Einerseits wird von ihnen dasselbe Waren- und Kulturangebot wie überall anders auch erwartet; andererseits gibt es ohne Herausstellung des spezifisch Lokalen keinen Grund, die Reise an diesen Ort zu rechtfertigen“ (43f.).
Rosmarie Beier-de Haan (57-76) wiederum erkennt immaterielles Kulturerbe durchaus als „Bestandteil musealer Ausstellungspraxis“ an, konzediert jedoch, dass dieses im Hinblick auf die Möglichkeit seiner museale Präsentation „bisher doch viel zu wenig systematisch beachtet worden“ sei (68). Nachdem sich Beier-de Haan in einleitenden Überlegungen mit der Genese der Idee vom immateriellen Kulturerbe beschäftigt hat, entwickelt sie – neben der obligatorischen Kritik am normativ-universalistischen Anspruch der UNESCO – Thesen zur sinnvollen Verschränkung von musealer Praxis und Bestrebungen immaterielles Kulturerbe gleichzeitig zu schützen und zu präsentieren. Hierzu schlägt sie schließlich drei Varianten „der museumsbezogenen Beschäftigung mit dem Intangible Heritage“ vor (68). Zum einen fordert sie eine stärkere Fokussierung auf medial fixiertes immaterielles Kulturerbe – „Tonträger, Bildmaterial, elektronische Medien usw.“. Weiterhin ließe sich durch das besondere Arrangement von materiellen Objekten in Ausstellungen und Museen das damit verbundene immaterielle Kulturerbe (etwa in Form von Lebenssituationen, Milieus etc.) „evozieren“. Schließlich wäre in Museen in Form von performativen Zurschaustellungen etwa von Handwerken das „praktizierte Intangible Heritage“ zu präsentieren.
Gernot Gruber (77-84) beschäftigt sich in seinem kurzen Text mit dem problematischen Gegensatz zwischen „der Flüchtigkeit der Musik und einer tendentiellen Objekthaftigkeit des kulturellen Erbes“. Bezugnehmend auf die Aufnahme einiger klassischer sowie traditioneller Musikstücke (bzw. Autographen) in die Liste des Weltkulturerbes, stellt Gruber die Frage, was bzw. wen dieses Erbe repräsentiere: „Was bedeutet diese Musik für wen?“. So wären etwa auf diese Art im kulturellen Gedächtnis bewahrte Volkslieder nur Kennern und Forschern zugänglich, „die die Kontexte und die situative Wandelbarkeit der Musik mitzudenken vermögen“. Andererseits könne ein Großteil der Menschen weltweit Autographen klassischer Musikstücke gar nicht lesen (78). Die solchermaßen in den musealen Status versetzten Musikstücke wiesen gewissermaßen einen Mangel an Repräsentationsfähigkeit im Vergleich zum materiellen Kulturerbe auf. In einem nächsten Schritt reflektiert Gruber die Möglichkeit der Vereinbarkeit von Musikstücken mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses. In Anlehnung an die von Jan Assmann zur Untersuchung des kulturellen Gedächtnisses geforderten Kategorien Langfristigkeit, Reflexivität und Kollektivbeziehungen weist Gruber auf die spezifische Schwierigkeit der musikalischen Strukturanalyse hin, die seit der Antike bemüht ist nachzuweisen, „dass Elemente des Erklingenden auch außerhalb von Bindungen an die Wortsprache […] ‚geistfähiges Material‘ sind und eine eben spezifische und sinnvolle Zusammenstellung von solchen erklingenden Elementen möglich ist“. Dieser „zergliedernde Eingriff in musikalische Phänomene“ (79-80) muss jedoch, führt Gruber weiter aus, vor dem Hintergrund sich verändernder gesellschaftlicher Kontexte und aktualisierter Musikstücke stets unzureichend bleiben. Auch hier steht also die Frage, wie repräsentativ Musikstücke als kulturelles Erbe sein können und wer oder was letzten Endes ihr Signifikat ist. Das trifft nicht weniger auf die Beziehung von Musik und (nationaler) Identität zu, wie Gruber am Beispiel der behaupteten „österreichischen“ Musiktradition zeigt, die sich als ebenso abhängig von gesellschaftlichen und politischen Kontexten erweist. Man kann hier einwenden, dass sich Musikstücke bzw. Musik als Kulturerbe generell nicht weniger als etwa materielle Gegenstände im Spannungsfeld zwischen musealen und aktualisierenden Tendenzen befinden. Immerhin macht die Frage nach der Bedeutung der Materialität eines historischen Objekts eines der Kernprobleme in Kulturerbe- und Denkmaltheorie gleichermaßen aus.
Die Auswirkungen der Zerstörung des „europäischen Theaterraums“ unter ökonomischen Erwägungen auf das kollektive Gedächtnis beschäftigen Elisabeth Grossegger (85-96). Dazu zeichnet sie zunächst die Entwicklung des deutschsprachigen Repertoiretheaters seit der europäischen Aufklärung und dessen Bedeutung für eine demokratische Bürgergesellschaft nach. Auf der Grundlage seiner Spezifik und Geschichte „verfügen wir heute über ein Repertoire, das als kollektives Gedächtnis mehr als 2500 Jahre umfasst“ (86 f.). Ein falsches Verständnis von Ökonomie und Struktureffizienz führte jedoch gegenwärtig zur Zerstörung der einmaligen europäischen Theaterlandschaft und damit auch zum Verlust seiner gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung: „Die Verpflichtung zum Erhalt der Theater durch den Staat und die damit verbundene Subventionierung wird unter dem Schlagwort der ‚Strukturdebatte‘ zu einem unfinanzierbaren Luxus umdefiniert oder einem durch Sponsoring getragenen Selbsterhalt überantwortet. […] Die Kultur- und Theaterlandschaft, im speziellen das deutschsprachige Repertoiretheater bildet ein offenes Netz, ein ‚Ereignis und Handlungsfeld‘, einen künstlichen sozialen und kulturellen Raum, der von den Menschen in grenzüberschreitenden Kommunikationsprozessen genutzt und belebt wird. Den europäischen Theaterraum zu zerstören, bedarf es keiner Militärwaffen, es genügen die Waffen der Ökonomie“. Das Verhältnis zwischen immateriellem und materiellem Erbe im Theater versucht Grossegger in Anlehnung an einen Aufsatz von Aleida Assmann aus dem Jahr 1991 (Fest und flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur) zu bestimmen. „Fest, ‚festgeschrieben‘ und ‚geschlossen‘ entspricht dem Materiellen, dem Theaterbau, dem Repertoire, dem Ensemble und der Ganzheit des Publikums als Konstanten von Repertoiretheater. Flüssig, ‚prozesshaft’‘ und ‚offen‘ entspricht dem Immateriellen, dem Werktext in der jeweiligen Interpretation, in der abendlichen Aufführung und der individuellen Rezeption. Haben wir in der Kategorie ‚Fest‘ ein fixiertes Resultat, so formt sich in der Kategorie ‚Flüssig‘ das Ergebnis ständig und individuell neu. Hier ließe sich einwenden, dass auch die vermeintlich „festen“ Größen des Theaters, die Grossegger ausgemacht haben will, historischen Veränderungen unterworfen, das heißt keineswegs „fest“ sind.
Gábor Ébli (79-112) beschäftigt sich mit der Geschichte des privaten Sammelns und dem Schicksal von Sammlungen moderner Kunst in Ungarn im 20. und 21. Jahrhundert. Hier macht Ébli mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie der kommunistischen Herrschaft und deren Ende vier wesentliche Zäsuren in der Geschichte seines Landes aus. Wenn vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Liberalismus und ökonomischen Aufschwungs ein florierender privater Kunstmarkt und als Resultat dieser Entwicklung bald bedeutende Sammlungen moderner Kunst in Ungarn existierten, so machten die beiden Weltkriege diese Entwicklung bald zunichte. Besonders verheerend wirkten sich die Judenverfolgung und der Kunstraub der Nazis aus. Aber auch das kommunistische Regime, dem jede Form von Privateigentum per se suspekt war, sorgte für eine Isolierung der ungarischen Sammler, die sich der Förderung moderner Kunst verschrieben hatten. Die staatlicherseits erzwungene Isolation führte dazu, dass der noch vor dem Ersten Weltkrieg bestehende Internationalismus des Kunstmarktes endgültig zerstört wurde. Dies hatte verheerende Folgen vor allem für den Status zeitgenössischer moderner Kunst, die bis in die unmittelbare Gegenwart in Ungarn kaum offiziell Anerkennung erfährt. Vor dem Hintergrund der konzise nachgezeichneten Entwicklung seit 1907 konstatiert Ébli: „Der Begriff Kulturerbe ist zwar wissenschaftlich und juristisch ausgelegt, sein Inhalt wird aber direkt oder indirekt vom politisch-sozialen Diskurs in einem Land bestimmt“ (105).
Schauplätze
Anil Bhatti (115-128) beschäftigt sich vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen in seiner Heimat Indien mit den Auswirkungen eines politisch-religiösen Fundamentalismus auf das Schicksal des Kulturerbes des Landes. Als Beispiel hat Bhatti die bis heute (2019) andauernde Kontroverse um die Babri-Moschee (1527) in Ayodhya (Uttar Pradesh) gewählt, die im Dezember 1992 durch Hindu-Fundamentalisten zerstört worden war. Die Akteure argumentier(t)en mit der angeblichen historischen Schreckensherrschaft der Muslime in Indien und einem an der Stelle der zerstörten Moschee zuvor bestehenden Hindu-Tempel, der dem König und Gott Rama gewidmet gewesen sein soll. Bhatti konstatiert einen zunehmenden religiösen und politischen Fundamentalismus auf Seiten sowohl der Hindus als auch der Muslime Indiens, der seine Wurzeln in der Zeit der britischen Kolonialherrschaft habe. Nicht zu Unrecht verweist Bhatti auf den Nationalismus, der das sozialistische Jugoslawien in vier Kriegen zerstört hat und auf die kulturelle Homogenisierung bzw. den Nationalismus, der für das gegenwärtige Indien charakteristisch sei. In Indien wie in den Postjugoslawischen Kriegen wird die Zerstörung von Kultur als „Palimpsest“ (120), die historisch Realität beanspruchen kann, zur Voraussetzung der vermeintlichen Re-konstruktion einer homogenen Nationalkultur, wie sie zu keiner Zeit je existiert hat: „Homogenisierungsversuche betrachten wir also als Formen der kulturellen Besitzergreifung, die solche Gesamtheiten negieren, um einer bestimmten historischen Schicht Authentizität zuzusprechen. Der Hindu-Fundamentalismus geht letztendlich von einem Goldenen Zeitalter aus, welches durch den Einbruch des Islam zerstört wurde. […] Der Drang nach Authentizität und Ursprungsreinheit in plurikulturellen Gesellschaften ist somit auch ein Vorgang, der kulturelle Spuren ausradiert“ (122). Dies jedoch bedeute auf politischer Ebene die Aufgabe der Werte, der sich die postkoloniale indische Gesellschaft ursprünglich verpflichtet sah.
Heidemarie Uhl (129-146) macht das in sich widersprüchliche Kultur- und Kulturerbekonzept Europas als politische Entität zum Thema. Im Europäischen Mythos steht die universale Kulturgesellschaft einerseits der Vielzahl von (nationalen, regionalen) Kulturgemeinschaften gegenüber. So aber bezieht sich das offizielle Europa in seinem universalistischen Konzept auf die Logik nationaler (und nationalistischer) Narrative zur Kultur. Der Gebrauch von „Kultur als Pathosformel“ soll diesen immanenten Widerspruch verdecken. Im Kern des Problems steht Uhl zufolge die Notwendigkeit einer rationalen politischen Verfasstheit der metanationalen Struktur der EU einerseits und das Bedürfnis einer emotionalen Identifikation mit Kultur der Europäer andererseits: „Es liegt nahe, die unterschiedlichen Leitvorstellungen im Hinblick auf das Selbstverständnis EU-Europas – eine demokratische BürgerInnengesellschaft einerseits, eine Kulturgemeinschaft andererseits – mit den Konzepten der Kultur- und der Staatsnation in Beziehung zu setzen. Allerdings: die idealtypische Unterscheidung zwischen einer rational begründeten Staatsnation und einer emotional aufgeladenen Kulturnation als Modelle nationaler Identitätsbildung ist aus kulturwissenschaftlicher Perspektive in dieser Trennschärfe kaum noch aufrecht zu erhalten“ (134). Die Meistererzählung des offiziellen Europa stellt also nicht nur in einem gewissen Sinn einen Anachronismus dar. Folgerichtig argumentiert Uhl: „Die Setzung von Kultur als Grundlage einer europäischen Identität lässt sich allerdings kaum vereinbaren mit einem ‚Europe for all‘ […] – Kultur ist vielmehr zu jenen ‚Fallen der nationalen Identitätsstiftung‘ zu zählen, ‚die stets mit Homogenisierungsstrategien auch gewaltsamer Natur, mit Ausgrenzung und Assimilation einhergingen‘. […] Umso bemerkenswerter ist es, dass der essentialistische Kulturbegriff, ungeachtet seiner weitgehenden Diskreditierung in der wissenschaftlichen Theoriediskussion, zur Grundlage von Konzepten einer europäischen Identitätsstiftung geworden ist […]. Kultur wird unreflektiert als Basis eines gemeinsamen Erbes ebenso wie als Kriterium für die Definition von (nationaler und regionaler) Verschiedenheit herangezogen. Die Rede von einer ‚europäischen Kulturgemeinschaft‘ ebenso wie jene von der ‚kulturellen Vielfalt‘ rekurriert damit auf einen Kulturbegriff, der von kulturell homogenen Kollektiven ausgeht; die tatsächliche Heterogenität und Vielfalt der sich überlagernden kulturellen Kommunikationsräume, die prinzipiell als transregional und -national zu betrachten sind, wird dabei negiert“ (135). Uhl stellt dem Mythos der Europäischen Union als Kulturgemeinschaft ein konstruktivistisches (und damit kritisches) Verständnis von Kultur entgegen. In Anlehnung an Benedict Andersons berühmte Formel von der „imagined community“ argumentiert Uhl, dass es eine gemeinsame Kultur nicht gäbe, wohl aber die Vorstellung davon. Die Überwindung des auf In- und Exklusion ausgerichteten Kulturbegriff des 19. Jahrhunderts will Uhl in der Visualisierung eines „offenen Konstruktionsprozess[es]“ Europas ausgemacht haben (141). Dieser Prozess ziele auf die Dekonstruktion des überkommenen Kulturbegriffs und setze auf Partizipation sowie die Sichtbarmachung von Diskontinuitäten und Kontingenzen.
In zwei weiteren Texten beschäftigen sich Gábor Sonkoly und Péter Erdősi (147-162) einerseits sowie Jacek Purchla (163-171) andererseits mit der Adaption des in westlichen Europa bereits länger etablierten Begriff des kulturellen Erbes und der damit bezeichneten Inhalte im postsozialistischen Ungarn bzw. Polen. Die dargestellten Probleme reichen von verschiedenen Vorstellungen des Privateigentums über fehlende bzw. unzureichende Strategien im Umgang mit historischen Objekten generell, bis zu adäquaten Gesetzgebungen und angemessenen institutionellen Strukturen.
Stark theoretisch geprägt ist hingegen der Schlusstext von Robert Temel (173-180). Dieser sieht eine Dialektik aus Fortführung und Veränderung „Kultur“ ständig neu „produzieren“ (173), eine definitive Bestimmung von Kultur ist demgemäß kaum möglich. Bezugnehmend auf Maurice Halbwachs und in Übereinstimmung mit gegenwärtigen Kulturtheorien konstatiert Temel eine andauernde Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Kultur- und Kulturerbetheorien: „Insgesamt entwickelt sich, so wie der Kulturbegriff, auch der Begriff des kulturellen Erbes hin zu einer allumfassenden Kategorie“.
Kulturerbe als soziokulturelle Praxis vereint nach wie vor aktuelle Gegenstände und Fragestellungen und sollte deswegen in keiner Bibliothek des mit Kultur- und Kulturerbetheorie befassten Personals fehlen.